Bericht: Flüchtlingskinder brauchen 3-mal mehr psychische Unterstützung als vor der COVID-19-Pandemie Wien, 29. April 2021 – Ein neuer Bericht der beiden Hilfsorganisationen World Vision International und War Child Holland bringt erschreckende Ergebnisse zutage: 70 % der intern vertriebenen und aus ihren Heimatländern geflüchteten Kinder sagen, dass sie psychosoziale Unterstützung benötigen. Das ist mehr als das Dreifache der geschätzten 22 % vor der COVID-19-Pandemie. „The Silent Pandemic“ („Die stille Pandemie“) bewertet die Auswirkungen von Lockdowns und COVID-19 auf die psychische Gesundheit von Kindern, die von Konflikten betroffen sind. Befragt wurden sowohl Kinder, die noch in Konfliktgebieten leben, als auch diejenigen, die fliehen mussten. Die Studie ergab, dass 57 % der Kinder, die in fragilen und konfliktbetroffenen Ländern leben, sagen, dass sie als direkte Folge von COVID-19 und Lockdowns psychosoziale Unterstützung benötigen. Bei Flüchtlingskindern steigt dieser Wert auf 70 %. „Wir wissen, dass COVID-19 die psychischen Gesundheitsprobleme vieler Menschen auf der ganzen Welt verschlimmert hat“, sagt Dana Buzducea, Advocacy-Direktorin von World Vision International. „Aber für Kinder, die bereits mit der Angst, dem Trauma und dem chronischen Stress von lebensverändernden und lebensbedrohenden Konflikten leben, waren und sind die Auswirkungen extrem schädlich. In einer Zeit, in der diese Kinder mehr psychische Unterstützung bräuchten als je zuvor, gibt es immer weniger davon. Bestehende Dienste – die in konfliktbetroffenen Gebieten und Flüchtlingslagern ohnehin begrenzt sind – können mit der Nachfrage nicht Schritt halten.“ Umfrage unter 500 Kindern Die Untersuchung, die mit fast 500 Kindern* und Jugendlichen in sechs fragilen und konfliktbetroffenen Ländern** durchgeführt wurde, zeigt, dass COVID-19 die bereits bestehende psychische Belastung der Kinder verstärkt. Weitere Ängste kommen zu ihrem ohnehin schon sehr anstrengendem Leben hinzu. Dazu gehören die Angst vor einer Ansteckung mit COVID-19 und der Verlust von Angehörigen sowie der Umgang mit der Schließung von Schulen und Bildungseinrichtungen.   Die befragten Kinder und Jugendlichen führen den erhöhten Stress größtenteils darauf zurück, dass sie nicht zur Schule gehen und weniger Zugang zu Dienstleistungen, Aktivitäten, Gesundheitszentren, Spielplätzen, Nahrung und Wasser haben. Besonders vermissen sie zudem Sport, Spiel, Familie und Aktivitäten zur Förderung des Friedens. Die Studie zeigt auch, dass Jüngere (86 % der jüngeren Kinder von 7-14 Jahren und 81 % der Jugendlichen von 15-17 Jahren) emotionale Unterstützung von einem Freund oder Familienmitglied in Anspruch nehmen. Ältere (junge Menschen von 19-24 Jahre) haben eher Schwierigkeiten beim Umgang mit ihren Ängsten. Nur die Hälfte von ihnen (41,8 %) gibt an, jemanden zu haben, an den sie sich wenden können. Appell zur Erhöhung von Mitteln für psychosoziale Unterstützung „Kinder, die Konflikte, Gewalt und schwer traumatisierende Ereignisse erlebt haben, brauchen dringend ungehinderten Zugang zu Diensten in den Bereichen psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung. Allerdings werden in den Ländern, in denen diese Kinder leben, nur 2-4 % der nationalen Gesundheitsbudgets für psychische Gesundheit ausgegeben (1). Es besteht ein gravierender Mangel an finanziellen Mitteln, der behoben werden muss“, so Buzducea. Derzeit macht das Budget für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung nur 1 % der gesamten Humanitären Mittel im Bereich Gesundheit aus. World Vision und War Child appellieren an die internationale Gemeinschaft, 1,4 Milliarden US-Dollar bereitzustellen, die für die dringende psychische Unterstützung der schätzungsweise 456 Millionen betroffenen Kinder benötigt werden. „Die Welt hat tatenlos zugesehen und zugelassen, dass Konflikte die Kindheit von Millionen von Mädchen und Jungen rauben. Die Pandemie hat nun zu noch mehr Leid für diese verletzlichen Kinder geführt. Ohne die notwendige Aufmerksamkeit, Dringlichkeit und Finanzierung stehen wir wahrscheinlich vor einer globalen Krise der psychischen Gesundheit von Kindern. Wir haben eine moralische Verantwortung, jetzt zu handeln, bevor es zu spät ist", sagt Buzducea. ANMERKUNGEN: *World Vision und War Child Holland sprachen mit 220 Kindern, 245 Jugendlichen und jungen Menschen, 287 Eltern und Betreuern und 44 Kinderschutzexperten und Gemeindeleitern **Untersuchungsländer: Kolumbien, Demokratische Republik Kongo (DRC), Jordanien, Libanon, Palästinensische Autonomiegebiete und Südsudan (1) https://www.who.int/news/item/27-08-2020-world-mental-health-day-an-opportunity-to-kick-start-a-massive-scale-up-in-investment-in-mental-health INTERVIEWS: Es bestehen Interview-Möglichkeiten mit Dana Buzducea (auf Englisch). Wir vermitteln gerne unter tanja.zach@wveu.org oder 0664-833 94 11 Den gesamten Bericht „The Silent Pandemic“ finden Sie hier KERNAUSSAGEN DER STUDIE: In allen sechs Untersuchungsländern gaben fast drei Viertel (70 %) der Flüchtlingskinder an, dass sie psychosoziale Unterstützung benötigen, mehr als dreimal so viel wie die geschätzten 22 % der Kinder in konfliktbetroffenen Ländern vor COVID-19. Über die Hälfte (56,5 %) der insgesamt befragten Kinder äußerten einen Bedarf an psychologischer und sozialer Unterstützung. Dieses Ergebnis würde bedeuten, dass hochgerechnet 456 Millionen Kinder und Jugendliche weltweit derzeit psychosoziale Unterstützung benötigen. Insgesamt fühlen sich 38 % der Kinder und Jugendlichen immer wieder traurig und ängstlich, wobei 12 % von ihnen angaben, dass sie sich ständig extrem traurig und ängstlich fühlen. Die konstante Natur dieser Gefühle deutet darauf hin, dass sie und 12% der Kinder in allen Konfliktkontexten das Risiko haben könnten, psychische Gesundheitsstörungen wie Depression und Angst zu entwickeln. Dies ist höher als die Schätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor der Pandemie von 9 % der Kinder und Erwachsenen mit mittleren und schweren psychischen Störungen in Konfliktsituationen. (Charlson, F., van Ommeren, M., Flaxman, A., Cornett, J., Whiteford, H., & Saxena, S. (2019). New WHO prevalence estimates of mental disorders in conflict settings: a systematic review and meta-analysis. The Lancet, 394(10194), 240-248.) Weitere 25 % der Kinder haben ihre Emotionen überhaupt nicht ausgedrückt. Obwohl wir zu diesem Zeitpunkt nicht über genügend Informationen verfügen, um den Bedarf an psychosozialer Unterstützung dieser 25 % zu ermitteln, könnte ihr Schweigen ein stummes Warnsignal sein. Im Jahr 2021 werden für die geschätzten 456 Millionen Kinder, die in fragilen und konfliktbetroffenen Regionen leben und psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung benötigen, schätzungsweise 1,4 Milliarden USD benötigt. Derzeit macht die Finanzierung für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung nur 1 % der gesamten Humanitären Gesundheitsfinanzierung aus. Weitere Ergebnisse: Mehr als die Hälfte der Eltern (51 %) berichteten über Veränderungen in der Art und Weise, wie ihre Kinder seit dem Beginn der COVID-19-Pandemie interagieren. Von den Eltern bemerkten 44 % Veränderungen in der Beziehung zu ihren Kindern, darunter aggressives Verhalten der Kinder. Die Gefühle der Kinder rühren von komplexen täglichen Sorgen her. Die meisten Kinder und Eltern befürchteten, selbst an COVID-19 zu erkranken oder dass Angehörige an dem Virus sterben könnten. 40 % der Kinder und 48 % der Eltern geben an, dass COVID-19 der Hauptfaktor ist, der ihre Gefühle negativ beeinflusst. Die Kinder sind besorgt über Schulschließungen, unterbrochenen Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ihrer Familien aufgrund der COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen. Einige erzählten, dass sie hungern mussten, nachdem die Eltern ihre Arbeit verloren hatten. 86 % der jüngeren Kinder (7-14 Jahre) und 81 % der Jugendlichen (15-17 Jahre) können emotionale Unterstützung bei einem Freund oder Familienmitglied suchen und tun dies auch. Ältere (junge Menschen von 19-24 Jahre) haben eher Schwierigkeiten mit dem Umgang mit ihren Ängsten. Nur die Hälfte von ihnen (41,8 %) gibt an, jemanden zu haben, zu dem sie für Unterstützung gehen können. Kinder und Jugendliche betonten die negativen Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden, wenn der Zugang zu wichtigen Dienstleistungen unterbrochen ist. Sie nannten am häufigsten Schulen als weniger verfügbar (89 %), gefolgt von Dienstleistungen und Aktivitäten (71 %), Spielplätzen (65 %), Gesundheitszentren (42 %), Lebensmitteln (38 %) und Wasser (11 %). Die COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen haben auch gemeindebasierte Kinderschutz- und Präventionsaktivitäten behindert, was die Kinder noch mehr gefährdet. Kinder nannten Armut in der Familie und Ernährungssicherheit (38 %) als Hauptanliegen. Für vertriebene Kinder oder solche, die in Konfliktgebieten leben, bedeutet der Verlust des Arbeitsplatzes ihrer Eltern und Betreuer ein ernsthaftes Risiko für Ernährungsunsicherheit. Das zwingt sie, auf negative Bewältigungsmechanismen zurückzugreifen und führt unter Umständen zu Verletzungen ihrer Rechte und ihres Schutzes.